Steine aus dem Weg räumen
Zähes Ringen um gute Leute – Fachkräftemangel begleitet den Praxisstart
Linda Herzog ist Physiotherapeutin und liebt ihren Beruf. Die Selbständigkeit war schon lange ihr erklärtes Ziel. | Foto: Beate Fleck
Mehr als 10 Jahren hatte Linda Herzog in der geräumigen Praxis mit den markanten türkisfarbenen Schildern in Marl gearbeitet. Als angestellte Physiotherapeutin und stets mit dem Hintergedanken, die Praxis eines Tages zu übernehmen. Dem Inhaber der Praxis hatte sie dies früh signalisiert und mit ihm eine Art „Vorgriffsrecht“ vereinbart: „Aber ich habe mir das immer offengehalten und wusste nicht, wann und ob es dazu kommt.“
Best Practice Nachfolgerin
Unternehmen Physio Point Marl
Nachfolgerin Linda Herzog
Branche Physiotherapie
Übernahme 2019
Beschäftigte 7
Dass Unternehmern und Unternehmerinnen der Abschied vom eigenen Betrieb schwer fällt, liegt in der Natur der Sache. Schließlich haben sie jahrelang Herzblut, Zeit und Ideen in ihr Lebenswerk gesteckt. Und so ließ der Tag der Übergabe auch in Marl lange auf sich warten. Anfang 2018 kam der erlösende Anruf des alten Chefs und jetzt wurde es richtig spannend für Linda Herzog.
Denn die junge Mutter befand sich gerade in Elternzeit mit ihren kleinen Kindern im Alter von einem und fünf Jahren. Keine leichte Entscheidung also für Linda Herzog und ihren Mann: „Wir haben lange hin und her überlegt, ob wir es machen oder nicht. Aber wir haben dann gesagt, das ist eine einmalige Chance. Und diese Chance haben wir dann einfach wahrgenommen.“ Und so freute sie sich auf die Perspektive mit der eigenen Praxis langfristig ein sicheres und größeres Einkommen zu erzielen: „Als angestellte Physiotherapeutin lässt sich kein Vermögen verdienen. Die eigene Praxis bietet die Chance, sich da deutlich besser zu stellen.“
„In unserer Branche ist es immer ein Vorteil, wenn man sich da selbständig macht. Es lohnt sich, man sollte sich das ruhig trauen!“ Linda Herzog
Allerdings war in der Zwischenzeit ein weiterer Bewerber um die Nachfolge hinzugekommen: ein Physiotherapeut, der ebenfalls in der Praxis arbeitete. Zum Glück war der Vorbesitzer ein Ehrenmann, der sich an Absprachen hielt und Linda Herzog die erste Wahl ließ. Der Kaufpreis war fix und so galt es für sie nun ein Unternehmen zu planen, den Businessplan zu erstellen, die Finanzierung über die Bank zu sichern und dabei immer ihre beiden Kinder im Auge zu haben. Um dies alles zu bewältigen, holte sich Linda Herzog die Unterstützung einer Unternehmensberaterin.
Dennoch sollte ihr der gescheiterte Mitbewerber zum Start als Unternehmerin noch Steine in den Weg legen. Nachdem klar war, dass Linda Herzog den Betrieb übernimmt, zog er die Konsequenzen und machte sich mit einer eigenen Praxis ebenfalls selbständig. Grundsätzlich war das kein Problem, doch er nahm gleich noch zwei Kolleginnen mit.
Das Dilemma einer vermeintlich sicheren Branche: der Fachkräftemangel
So wurde die Neu-Unternehmerin ohne Vorwarnung ins kalte Wasser der Selbständigkeit geworfen. Obwohl die Terminbücher voll waren und sich die Praxis kaum vor Patienten retten konnte, stand Linda Herzog nun vor der Herkulesaufgabe, in einem leergefegten Markt neue Kräfte zu finden, um richtig starten zu können. Auch heute noch erfüllt es sie mit Stolz, dass es ihr gelang, diesen harten Brocken aus dem Weg zu räumen: „Im Nachhinein muss ich sagen, war das das Beste, was uns passieren konnte. Im Grunde war so ein Neuanfang mit neuen Mitarbeitern auch einfacher. Und jetzt sind wir ein richtig tolles Team.“
Gestartet ist sie dann am 1. Februar 2019. Mit zum Team gehört auch ihr Mann, der auf Teilzeitbasis eingestiegen ist, den Fitness-Bereich übernommen und sich inzwischen in die gesamte Administration der Praxis eingearbeitet hat. Zusätzlich unterstützte das Vorbesitzer-Ehepaar noch einige Zeit auf Minijobbasis, was bei vielen Detailfragen um Verträge oder Abrechnungen mit Krankenkassen half.
Nach nun fast drei Jahren der Selbständigkeit hat die Chefin ihre Philosophie im Unternehmen mit den neuen Kräften etabliert. Teamaufbau, optische Modernisierung und Digitalisierung mit Terminsoftware und elektronischen Abrechnungen lösten im „Physiopoint Marl“ den Innovationsstau und sorgten für einen behutsamen Wandel. Sehr viel Arbeit für die junge Mutter, dennoch zieht Linda Herzog mit Blick auf ihre Kinder ein durch und durch positives Fazit: „Es ist toll, dass ich nun zeitlich oft flexibler bin und meine Zeit für die Kinderbetreuung so gut einteilen kann. Und je größer die Kinder werden, desto einfacher wird es.“
Soweit läuft alles nach Plan, wäre da nicht in ihrer Branche dieser gravierende Mangel an Fachkräften. Schon lange sucht sie händeringend einen weiteren Physiotherapeuten oder eine Physiotherapeutin. Aber auch da gibt es Licht am Horizont. Weil im Jahr 2019 das Schulgeld für die Physiotherapieausbildung abgeschafft wurde, könnte es demnächst mehr Absolventinnen und Absolventen geben.
Die dürfen sich dann gerne für das Team von Linda Herzog bewerben!