Eine Chefin, zehn Sprachen

Augenoptikermeisterin mit türkischen Wurzeln etabliert als Nachfolgerin eine vielfältige Unternehmenskultur

Nachfolgerin Toni Petschulat

Augenoptikermeisterin Gülcan Yildirim-Urul aus Dortmund | Foto: Beate Fleck

Das ist die rührende Geschichte des kleinen Mädchens Gülcan, das schon mit drei Jahren Probleme beim Sehen hatte und deshalb eine Brille benötigte. Ihre erste Brille bekam sie in einem Optikerfachgeschäft in der Dortmunder Münsterstraße, perfekt an die kleinen Kinderaugen angepasst vom damaligen Inhaber Uwe Tausch.

Damals 1979 ahnte das kleine Mädchen noch nichts von einem Traumberuf und dass sich später sehr vieles in ihrem Leben um Brillen drehen würde. Und erst recht nicht, dass sie selbst einmal den Platz des Mannes einnehmen würde, der ihr einst mit so viel Sorgfalt die ersten Brillengläser anpasste.

Best Practice Nachfolgerin

Nachfolgerin      Gülcan Yildirim-Urul
Unternehmen    Brillenwelt Optik Urul
Ort                      Dortmund
Branche              Fachgeschäft Augenoptik
Übernahme        2003
Beschäftigte       3 plus 1 Auszubildender

www.optik-urul.de

Jahre später war aus dem kleinen Mädchen längst eine junge Frau geworden, die als Abiturientin hin und wieder bei Optik Uwe Tausch jobbte und aushalf, wenn Not am Mann oder an der Frau war. Nach dem Abitur wollte Gülcan eigentlich Architektin werden. Doch als es mit dem Studienplatz nicht auf Anhieb klappte, begann sie eine Ausbildung in dem Optikergeschäft, das ihr schon so vertraut war. Ein halbes Jahr später hätte sie den Studienplatz haben können, doch da blieb sie lieber den Brillen treu: „Denn was man anfängt, führt man auch zu Ende“, war die Devise von Gülcan Yildirim-Urul. Und so absolvierte sie ihre Ausbildung und anschließend gleich die Meisterschule. Hier entwickelte sich der Gedanke, eines Tages ein Geschäft zu übernehmen, vielleicht auch das, in dem sie schon so lange tätig war.

Geradlinig mit kleinem Umweg:
vom Abitur über Ausbildung und Meisterschule zum eigenen Geschäft

Der erste Anlauf zur Übernahme klappte allerdings noch nicht. Gülcan Yildirim-Urul suchte nun nach neuen Perspektiven, schließlich hatte sie bis jetzt auch nur einen einzigen Optikerbetrieb kennen gelernt: „Und so wollte ich nach dem Meisterbrief noch andere Erfahrungen sammeln. Ich habe dann innerhalb eines Jahres in sechs Betrieben gearbeitet.“ Dank ihrer guten Noten war es einfach, immer wieder neue Stellen zu finden. Als man ihr bei einem Großfilialisten sogar ein Traineeprogramm zur Filialleiterin anbot, stärkte das ihr Selbstbewusstsein zusätzlich enorm.

Um ein Jahr älter und um viele Erfahrungen reicher gab es 2003 die berühmte zweite Chance. Diesmal bereitete sich Gülcan Yildirim-Urul gründlich vor und einigte sich mit dem Vorbesitzer Uwe Tausch: „Man wird ja auch schlauer. Beim zweiten Anlauf habe ich mich zuerst beim Arbeitsamt informiert und Infos zu Überbrückungsgeld und Gründungsseminaren bekommen. Als es darum ging, wie man ein Geschäft übernimmt, hat mich die Handwerkskammer Dortmund sehr gut beraten und mit mir zusammen einen Businessplan erstellt. Und das alles kostenfrei.“

Mit dem neu erstellten Businessplan ging es zur Bank. Den notwendigen Kredit bekam sie sofort. Nach einer gemeinsamen Inventur mit dem Vorbesitzer stieg Gülcan Yildirim-Urul ohne große Übergabe in das Unternehmen ein: „Das war kein Problem, ich kannte ja alles. Für mich war da nichts neu.“ Um den Übergang für den Kundenstamm auch ein wenig sichtbar zu machen, griff die neue Chefin zum Pinsel und versah den Laden mit einem neuen Anstrich. Sonst änderte sie nicht viel. Ganz nach Vorbild ihres alten Chefs schmiss sie sich fortan in feinen Zwirn, um ihre Kundinnen und Kunden zu bedienen. Übrigens das Einzige, was sie aus heutiger Sicht anders machen würde: „Die Leute sprachen dann lieber meine Reinigungsfrau an als mich, weil sie mich nur in normalem Outfit kannten“, sagt die Optikerin heute lachend.

Mit Vielfalt zum Erfolg: Mehr Umsatz dank Multikulti

„Meine Idee als Alleinstellungsmerkmal war, dass man bei mir in der eigenen Sprache beraten wird“, sagt Gülcan Yildirim-Urul über ihr Geschäft im Herzen der Dortmunder Nordstadt. Dort, wo Menschen aus aller Welt zu Hause sind. Und so sprach ihre erste Auszubildende fließend Polnisch und Russisch: „Das war ein Ziel von mir, immer wenn ich jemanden eingestellt habe, sollte auch eine neue Sprache mit dazukommen. Heute sprechen wir mit vier Personen zehn Sprachen.“

So werden in der Münsterstraße Kundengespräche auf Syrisch, Arabisch, Serbisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch und Deutsch geführt. „Es ist schon manchmal komisch, wenn ich neben meinen Angestellten stehe und kein Wort verstehe. Weil einige Sprachen wie Russisch oder Arabisch sehr hart klingen, hört sich das an, als würden sie sich streiten und ich frage dann, ob alles okay ist.“ Ist es, und die Kunden wissen es zu schätzen: „Es spricht sich in den jeweiligen Communities sehr schnell rum, dass wir hier ihre Sprache sprechen.“

Der Erfolg blieb nicht aus. Eine Unternehmerin mit Migrationshintergrund, das war anfangs noch etwas Außergewöhnliches. 2007 erhielt Gülcan Yildirim-Urul den Interkulturellen Wirtschaftspreis und ihre kleine Tochter kam zur Welt. Mit einem Schmunzeln erinnert sie sich, wie sie mit ihrem Baby auf dem Arm zur Preisverleihung eilte. „Mein Kind ist praktisch im Geschäft groß geworden. Und mein Mann hat sich viel um Kind und Haushalt gekümmert, sonst hätte es nicht funktioniert.“

Ihre Ideen hat die Optikermeisterin in vielen Vorträgen weitergegeben: „Denn viele Unternehmer hatten ja eher Angst, Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen. Sie haben den Nutzen gar nicht gesehen, dass sie damit auch neue Kundenkreise ansprechen.“ In der Brillenwelt Optik Urul gelang das so gut, dass der alte Laden dem Kundenansturm einfach nicht mehr gewachsen war. Vor Kurzem zog sie deshalb in neue Räume und hat die Verkaufsfläche dort fast verfünffacht.

Die umtriebige Unternehmerin engagiert sich außerdem im örtlichen Gewerbeverein, hält Vorträge und betreibt intensive Öffentlichkeitsarbeit. Die Ideen gehen Gülcan Yildirim-Urul nie aus. So etabliert sie in ihrem Unternehmen gerade Hausbesuche als neuen Kundenservice, arbeitet an einer speziellen Unterstützung für Sehbehinderte und will die Angebote rund um Kontaktlinsen ausbauen. Dennoch – in seltenen wehmütigen Momenten denkt sie manchmal an ihren einzigen unerfüllten Traum. Das Architektur-Studium, das sie einst plante, hat in ihrem ausgefüllten Leben keinen Platz gefunden.